Zum Vorliegen einer „unklaren Verkehrslage“
Im Straßenverkehr spielt insbesondere bei der Frage zur Zulässigkeit von Überholvorgängen das Vorliegen einer „unklaren Verkehrslage“ eine Rolle. Ein klassischer Fall hierzu ist die Frage, wann ein Autofahrer darauf vertrauen darf, dass ein Verkehrsteilnehmer abbiegen wird, und wann er wegen unklarer Verkehrslage ein Fahrmanöver zurückzustellen hat. Einen solchen Fall hatte unlängst das AG Böblingen zu entscheiden.
Sachverhalt:
Der Kläger befuhr eine einspurige Straße hinter einem weiteren PKW-Fahrer, der in der Folge ordnungsgemäß unter Setzung des Blinkers und Reduktion der Geschwindigkeit anzeigte, dass er nach links auf ein Grundstück abbiegen wollte. Die Straße war zunächst zu eng, um am vorausfahrenden PKW rechts vorbeizufahren, wurde aber sukzessive breiter, wobei der Kläger es versäumte, sich am rechten Fahrbahnbereich zu orientieren. Erst einige Meter später scherte der Kläger langsam nach rechts aus, um den vorausfahrenden PKW rechts zu überholen. Der Beklagte fuhr derweil von hinten kommend seinerseits rechts am Kläger vorbei, sodass es zur Kollision kam.
Die Haftpflichtversicherung des Beklagten lehnte eine Haftung ab, da der Beklagte sich ihrer Meinung darauf verlassen durfte, dass auch der Kläger nach links abbiegen wollte. Dieser berief sich auf ein unzulässiges Überholen, mindestens im Hinblick auf eine unklare Verkehrslage. Das AG Böblingen gab dem Kläger mit Urteil vom 25.09.2013 weitgehend recht.
Rechtliche Analyse:
Die streitentscheidende Norm war vorliegend § 5 Abs. 7 StVO: „Wer seine Absicht, nach links abzubiegen, ankündigt und sich eingeordnet hat, ist rechts zu überholen“.
Nach der Aussage des Klägers stand fest, dass sich dieser zumindest im linken Fahrbahnbereich befand. Das Gericht hatte daher zu klären, ob der Kläger dem nachfolgenden Verkehr seine Absicht links abzubiegen angezeigt hatte. Das Gericht ging davon aus, dass im vorliegenden Fall die Voraussetzungen nicht gegeben waren. Das Anzeigen eines Abbiegevorgangs erfordert grundsätzlich drei Voraussetzungen, welche kumulativ (also alle gleichzeitig) vorliegen müssen:
– Reduktion der Geschwindigkeit
– Räumliche Einordnung (in diesem Fall nach links)
– Setzung des Fahrtrichtungsanzeigers (Blinker)
Im streitgegenständlichen Fall fehlte es in jedem Fall an der dritten Voraussetzung. Ein Blinker war nicht gesetzt worden, sodass der Beklagte nicht davon ausgehen durfte, dass der Kläger abbiegen würde. Dieser durfte seinerseits den vorausfahrenden PKW nach § 5 Abs. 7 StVO überholen. Für den Beklagten lag hingegen mit Hinweis auf die Rechtsprechung des Kammergerichts (KGVM 85, 67) sowie des LG Köln (VRS 84, 330) eine unklare Verkehrslage. Ein Überholvorgang erfordere größte Vorsicht und im Zweifel sei ein Überholvorgang bei unklarer Verkehrslage zurückzustellen.
Der Kläger musste sich seinerseits eine Mithaftung anrechnen lassen, da er seiner „doppelten Rückschaupflicht“ nicht gerecht wurde und er bei dem erst späteren Ausscheren nach rechts mit dem Fahrmanöver des Beklagten hätte rechnen müssen. Das Gericht hielt eine Haftungsquote von 70 : 30 zugunsten des Klägers für angemessen.
Fazit:
Das Urteil verdeutlicht, dass insbesondere bei Überholvorgängen eine besondere Vorsicht zu wahren ist. Ein Kfz-Fahrer sollte sich nur auf ein Abbiegemanöver eines anderen Verkehrsteilnehmers verlassen, wenn dies eindeutig erkennbar ist. An den oben genannten Kriterien sollte sich ein verständiger Fahrer orientieren. Bei unklarer Verkehrslage ist auch ein vermeintlicher Vorrang auf Grund des Rücksichtnahmegebots zurückzustellen.
Besonders beachtlich ist das Urteil, da die Haftpflichtversicherung des Klägers (die mit der des Beklagten identisch war) 100 % der Ansprüche des Beklagten reguliert hatte. Der Fall zeigt, dass die Würdigung des Unfallgeschehens durch die Versicherung stets kritisch hinterfragt werden sollte. Unsere Anwälten stehen Ihnen hierbei gerne zur Verfügung.